Eske Wollrad
Am Ende der Weiß-heit?
Grundlagen und Chancen der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland
„Rassismus verletzt unsere ganze Gesellschaft, und bei genauem
Hinsehen sind in jedem rassistischen System alle Menschen auf unterschiedliche
Art betroffen. Weiße Menschen verlieren ihre Würde, wenn sie
Rassismus ausüben oder geschehen lassen.“ Noah
Sow(1)
Die schwarze deutsche Musikerin und Autorin Noah Sow benennt mit diesen beiden
Sätzen die Grundlage und Notwendigkeit kritischer
Weißseinsforschung. Rassismus verletzt die ganze Gesellschaft und alle
Menschen sind von Rassismus betroffen, wenn auch auf völlig
unterschiedliche Weise. Es gibt Sow zufolge also nicht
die betroffenen
Schwarzen auf der einen Seite und
die Weißen auf der anderen, die
scheinbar in einem Paralleluniversum leben und Rassismus nur aus
Zeitungsberichten über rechte Schläger kennen. Kritische
Weißseinsforschung setzt bei der Tatsache an, dass es erstens Weiße
Menschen gibt und zweitens, dass es notwendig ist, sie zu Forschungsobjekten zu
machen.
Ich möchte heute in meinem Vortrag einen kleinen Ausschnitt dieser
Forschungsrichtung präsentieren und zur Diskussion stellen.
Dazu möchte ich zunächst einige Begriffe definieren, die für die
Weißseinsforschung von Bedeutung sind. Ich werde auch kurz auf den
gesellschaftstheoretischen Referenzrahmen eingehen, der meinem Ansatz zugrunde
liegt.
Im ersten Hauptteil meines Vortrags skizziere ich kurz die Entstehung der
kritischen Weißseinsforschung in Deutschland – aus Zeitgründen
kann ich auf die US-amerikanischen Entwicklungen nicht eingehen
(2).
Der zweite Hauptteil behandelt die theoretischen Grundlagen der kritischen
Weiseinsforschung und erläutert die Unterschiede zu gängigen
Rassismustheorien.
Im dritten Hauptteil werde ich kurz auf verschiedene Ausrichtungen der
kritischen Weißseinsforschung in Deutschland eingehen.
Begriffsklärung
Begriff „Menschen of Color“
Der Begriff „Menschen of Color“ bezieht sich laut Kien Nghi Ha,
Nicola Lauré al-Samarai und Sheila Mysorekar auf solche Menschen, die
„die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und
ungleich
erlebte Erfahrung [teilen], aufgrund körperlicher und kultureller
Fremdzuschreibungen der Weißen Dominanzgesellschaft als
‚anders’ und ‚unzugehörig’ definiert zu
werden.“
(3)
Ich verwende „Menschen of Color“ und „Schwarze Menschen“
synonym.
Begriff „Weiße“
Mit dem Begriff „Weiße“ bezeichne ich alle Menschen, die sich
nicht mit Rassismus auseinandersetzen müssen.
„Rasse“ und Rassismus
Ich werde das Wort „Rasse“ verwenden. Viele kritische
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tun dies nicht und sprechen statt
dessen von „Ethnizität“ oder „race“, weil
„Rasse“ ein so grauenvolles Wort ist, das an Gewalt wieder
heraufbeschwört, was eigentlich bekämpft werden soll. Ich bin
hingegen der Auffassung, dass es nichts nützt, den Begriff zu vermeiden,
wenn seine Inhalte auf so gewaltvolle Weise lebendig sind. Paul Mecheril
schreibt:
„Es gibt eine symbolische und faktische Rangordnung der Physiognomien. [
... ] hier gibt es nur einen Namen, der die reale Gewalttätigkeit nicht
unterschlägt: ‚Rasse’. Das Wort ist böse, es sticht, es
tut weh – kein anderes Zeichen, das besser passte.“
(4)
„Rasse“ ist also eine Realität, die „reale
Gewalttätigkeit“
und eine Fiktion. Natürlich gibt es
keine „Rassen“, das Konzept „Rasse“ ist eine Erfindung,
aber es materialisiert sich entscheidend über
Funktion und
Beziehung. Die Funktion des Konzepts besteht in der Legitimation von
Genoziden, Ausbeutung und Unterdrückung von unzähligen angeblich
„nicht-Weißen“ Menschen. Das Konzept „Rasse“
materialisiert sich ferner über die Beziehung, d.h. in Beziehung zu
anderen Gewaltformen, die sich gegenseitig konstituieren: Prozesse der
Rassifizierung verlaufen über Vergeschlechtlichung und reflektieren und
produzieren Klassenpositionen und Lebensformen.
Der Grundpfeiler des Konstrukts „Rasse“ ist die binäre
Opposition Schwarzsein – Weißsein. In Weißer Sicht gilt
Schwarzsein als deviant, exotisch oder schlicht bemerkenswert und
Weißsein als normativ, gewöhnlich und nicht bemerkenswert.
Weißsein als Norm ist untrennbar von Weißem Terror, rassistischer
Gewaltausübung und der Inanspruchnahme von Privilegien. Und
Weißsein als Norm ist ebenso untrennbar von kollektiver Schuld und
individuellen Schuldgefühlen. Schuldgefühle artikulieren sich
über verschiedene Kanäle als Abwehr und Angriff: „Das stimmt
doch gar nicht!“ Oder: „Die machen das doch auch!“ Eine typisch
Weiße Reaktion, die ich immer wieder zu hören bekomme, ist der
Satz: „Aber Schwarze sind doch auch rassistisch!“ Wenn sie zum
Beispiel Weiße beleidigen.
Dazu ist in aller Kürze zu sagen: Wir müssen analytisch sauber
trennen zwischen Rassismus und Diskriminierung. Rassismus ist eine
Unterdrückungsform, vermittels derer eine gesellschaftliche Gruppe (meist
sich selbst als „Weiß“ definierend) über andere Gruppen
(die meist als „nicht-Weiß“ fremdbestimmt werden)
institutionalisierte Macht ausübt. Von Rassismus kann nur dann gesprochen
werden, wenn die Gruppe, die andere als „Rasse“ konstruiert und
bewertet, auch die Macht hat, diese Konstruktion gesellschaftlich
durchzusetzen
(5).
Diskriminierung hingegen bedeutet eine Herabsetzung, die auch durch Schwarze
erfolgen kann. Wenn eine Schwarze Person mich „Mehlwurm“ nennt oder
„Weißbrot“, ist das diskriminierend, jedoch sind diese
Bezeichnungen weder in ein historisch gewachsenes Gewaltverhältnis
eingelassen noch sind sie gesellschaftlich institutionalisiert.
Institutionalisierte Gewalt bedeutet, das z.B. rassistische Bezeichnungen von
zentralen gesellschaftlichen Institutionen
verwendet und nicht
bekämpft werden. So bezeichnete ein Düsseldorfer Richter einen
Togolesen als N**** und seine Muttersprache als N****sprache (FR 6.4.2004), der
Berliner Generalstaatsanwalt Kargen sprach öffentlich von primitivsten
Buschn**** (FR, 19.1.2004), ein Berliner Abschieberichter behauptete,
Romafrauen könnten auf Knopfdruck hyperventilieren und Mongolen würde
aus Spaß lügen (FR, 10.7.2004) Hessische Justizbeamte verkleideten
sich als KuKluxKlan-Mitglieder, um einen Schwarzen Häftling zu bedrohen
(SZ, 11.5.06). Wenn sich Weiße Deutsche rassistisch verhalten,
können sie sich folglich über Repräsentanten der staatlichen
Exekutive legitimieren.
Der Begriff „Rassifizierung“
Rassifizierung
bezeichnet einen Prozess kognitiver Abrichtungen, in
dessen Verlauf Zeichen auf Körper übertragen und diese entsprechend
gewertet werden. Die Zeichen sind willkürlich: Nähmen wir das Zeichen
„Ohr“, wäre eine Aufteilung der Menschheit in die
„Rassen“ der Großohrigen und Kleinohrigen denkbar, verbunden
mit einer Wertung, die beispielsweise den Kleinohrigen die höhere
Intelligenz zuspricht. In den uns bekannten Rassifizierungsdynamiken ist das
Zeichen „Hautfarbe“ prominent. Dies erfordert bezüglich der
Farbbegriffe „schwarz“ und „weiß“, von den Farben im
Tuschkasten zu abstrahieren, sie auf menschliche Haut zu übertragen und
mit einer Werteskala zu unterlegen. Das unsichtbarste und folglich historisch
wirkmächtigste Zeichen in der Geschichte der Rassifizierung ist das
Blut.
Gesellschaftstheoretischer Referenzrahmen
Den diesem Beitrag zugrunde liegenden Referenzrahmen bildet postkoloniale
Kritik. Sie setzt beim „Fehlen einer kontinuierlichen und vor allem
kritischen Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft“
(6)
an und legt offen, in welchem Maß der deutsche Kolonialismus dazu
beitrug, „Rasse“ als grundlegendes Ordnungsprinzip
gesellschaftlicher Beziehungen zu etablieren. Postkolonialismus als
herrschaftskritischer Diskurs setzt somit voraus, dass Echos
kolonialrassistischer Gewalt gegenwärtig und wahrnehmbar sind, also
Alltag, Denken, Politik und Kultur zutiefst prä[[opthyphen]]gen. Ferner
gilt, dass „der postkoloniale Diskurs ein politisches Projekt ist, der
nicht ohne die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den multiplen Facetten
gegenwärtiger Machtdimensionen gedacht werden kann.“
(7)
Postkoloniale Kritik demontiert die Mythen klarer Grenzen zwischen
„wir“ und „den anderen“, zwischen „eigen“ und
„fremd“, zwischen „hier (oben)“ und „dort
(unten)“. Gegen die Phantasie reinlicher Trennungen betont
Postkolonialismus Vielheiten und Vermischungen und arbeitet mit
Bruchstücken und Montagen, deren offene Facetten sich im stetigen Wandel
befinden. Postkoloniale Theorie- und Kulturproduktionen lassen sich als
Landkarten lesen, „in denen Geschichten und Geografien längst
ineinander fallen: Hier mündet der Rhein in den Golf von Genua und die
Elbe in den Bosporus; hier werden die ostfriesischen Inseln vom Pazifik
umspült; hier kann man vom Erzgebirge aus über das Mekong-Delta
blicken; hier ist der Atlantik nicht breiter als die Spree. Die Gesichter der
Menschen am Ufer sind klar zu erkennen, ihre Stimmen deutlich zu
hören.“
(8)
I. Entstehung der Weißseinforschung in Deutschland
„Schwarze Menschen haben aus Überlebensnotwendigkeit schon vor ein
paar hundert Jahren überall auf der Welt kritische
Weißseinsforschung betrieben, indem sie die Verhaltensweisen und
sozialen Realitäten weißer Menschen benannten und
analysierten.“
(9)
Das gilt auch für Deutschland: Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland hat eine lange Tradition; sie ist nichts neues – außer
vielleicht für die meisten weißen Deutschen. Kritische
Weißseinsforschung lässt sich explizit zurückverfolgen auf die
erste Schwarze Bewegung in Deutschland in den 1920er Jahren, setzt sich Mitte
der 1980er Jahre mit dem Erscheinen der Anthologie „Farbe bekennen.
Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“
(10)
fort und brachte 2005 die Anthologie mit dem Titel „Mythen, Masken und
Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland“
(11) hervor, welche eine Vielfalt von
Zugängen dokumentiert, die sich unter anderem in unterschiedlicher Weise
mit der Normativität von Weißsein auseinander setzen.
Neben dieser langen Forschungstradition, die sich innerhalb Schwarzer
Theorieproduktion verortet, entstanden auch auf dem Weiß dominierten
akademischen Feld Forschungen zu Weißsein in verschiedenen
geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Hier handelt es sich überwiegend
um Qualifikationsarbeiten (Diplom- beziehungsweise Magisterarbeiten und
Dissertationen) von NachwuchswissenschaftlerInnen, die für spezifische
Fragestellungen zu Weißsein nicht durch deutsche wissenschaftliche
Institute sensibilisiert wurden, sondern häufig durch
Auslandsaufenthalte in den USA oder Großbritannien.
Bezüglich des bisherigen Spektrums von Forschungsarbeiten zu
Weißsein fällt erstens auf, dass fast alle Forschenden weiblich,
fast alle Weiß sind und ihre Fragestellungen mit der Gender-Thematik
verknüpfen. Zweites liegt der Fokus deutlich auf einem
diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Zugang, während die
Effekte von Konstruktionsprozessen weniger in den Blick rücken.
II. Theoretische Grundlagen der Weißseinforschung
Paradigmenwechsel: von den Geanderten zu den Eigentlichen
Niemand hat das pointierter formuliert als die afrikanisch amerikanische
Schriftstellerin und Nobelpreisträgern Toni Morrison:
„Mein Projekt ist das Bemühen darum, den kritischen Blick vom
rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden; von den Beschriebenen und
Imaginierten zu den Beschreibenden und Imaginierenden; von den Dienenden zu
den Bedienten.“
(12)
Menschen of Color wurden im Prozess der Kolonialisierung als Objekte
phantasiert, sie wurden beschrieben und als Dienende konstruiert. Der
Paradigmenwechsel beinhaltet, den Passivdiskurs aufzugeben und die zu
markieren, die phantasieren, beschreiben und konstruieren, solche also, die
sich seit Beginn der Rassifizierungsprojekte selbstverständlich an die
Spitze der Menschheit setzten und sich „farblich“ kennzeichneten: als
Weiße.
Relationales Verhältnis von „Objekt“ und
„Subjekt“
Was Weißsein bedeutet, hängt davon ab, wie Schwarzsein als Gegenpol
konzipiert ist. Weißsein steht in einem Abhängigkeitsverhältnis
zu Schwarzsein: Erst über die Fabrikation angeblicher „Schwarzer
Wildheit“ kann sich der Mythos Weißer Zivilisation entfalten, erst
die Erfindung der Geschichtslosigkeit des Trikonts ermöglicht die
Konzipierung westlicher Narrative als Universalgeschichte. Weißsein
existiert also nicht „an sich“, sondern konstituiert sich im
Gegenüber zu und abhängig von Konstruktionen von Schwarzsein.
Weißsein konstituiert sich über den Subjektbegriff der
Aufklärung
Rassekonstruktionen im Allgemeinen und Imaginationen von Weißsein im
Besonderen sind ohne die Aufklärung nicht denkbar. Es war allen voran der
Philosoph Immanuel Kant (1724-1804), der als „Begründer des modernen
Rassekonzepts“
(13) die Grundlagen Weißer
Normativität schuf. In seiner Schrift
Von den verschiedenen Rassen
der Menschen (1775) unterscheidet er vier „Rassen“, wobei
für ihn „Neger“ und Weiße die „Grundracen“
darstellen. Eine Begründung ist nicht notwendig: „Die Ursache,
Neger und Weiße für Grundracen anzunehmen, ist für sich selbst
klar.“
(14) Eine Wertung wird ebenfalls als selbstevident gesetzt:
„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race
der Weißen.“
(15)
Weißsein bedeutet nicht nur Vollkommenheit, sondern auch
Ursprünglichkeit, denn Europa mit seinem gemäßigten Klima
bezeichnet nach Kant den Ort, „wo auch der Mensch [...] am wenigsten von
seiner Urbildung abgewichen sein müßte“.
(16)
Weiße sind es auch, denen die Zukunft der Zivilisation gehört:
„(Weisse:) Enthalten alle Triebfedern der Natur in affecten und
Leidenschaften, alle Talente, alle Anlagen zur Cultur und Civilisierung und
können sowohl gehorchen als herrschen. Sie sind die einzigen, welche
immer in Vollkommenheit fortschreiten.“
(17)
Vor diesem Hintergrund entwarf Kant das Konzept des Subjekts als ein
vernunftbegabtes und autonom urteils- und handlungsfähiges Individuum,
welches für ihn selbstverständlich weiß und männlich war
im Gegenüber zu der minderen „Grundrace“, den
„typisierten Objekten“, den rassisch Geanderten
(18).
Somit ist das Konzept des „Subjekts“ historisch unmittelbar mit
Weißsein (und Mannsein) verknüpft, verbunden mit dem
vermeintlichen Naturrecht, „Andere“ zu objektivieren, als
Kollektiv zu markieren und abzuwerten.
Diese Kollektivierung der Geanderten bedeutet, dass Menschen of Color
immer als Repräsentantinnen und Repräsentanten
ihrer Gruppe wahrgenommen werden, Weiße hingegen nie. Ich werde nie
gefragt: „Und was sagen Sie als Weiße dazu?“ Oder: „Na,
als Weiße sind Sie natürlich Expertin auf diesem Gebiet!“ Oder
„Diese Karriere ist doch eher untypisch für Leute wie Sie,
oder?“ Oder „Das ist bestimmt nicht leicht für Sie, in
Deutschland zu leben – so fern der Heimat!“ Selbstverständlich
gibt es Weiße als Kollektiv, nur werden sie nicht so benannt.
Stattdessen existieren Codes, die alle verstehen: Ist von
„Deutschen“ die Rede, sind Weiße Deutsche gemeint, denn im
„Deutschen“ ist das Weiße vermeintlich naturgemäß
bereits enthalten.
Gängige Rassismustheorien
Das, was an gängigen Rassismustheorien bekannt ist, nenne ich – von
Ausnahmen abgesehen – hegemoniale Rassismusforschung. Sie ist dadurch
gekennzeichnet, dass sie sich nicht selbstkritisch verortet, d.h. wir erfahren
nicht, dass die ForscherInnen Weiß sind. Die Stimmen kommen
gewissermaßen aus dem Off, sie sind nicht positioniert. Dies spiegelt
sich in den Inhalten: hegemonialer Rassismusforschung markiert Schwarzsein
und codiert Weißsein.
Beispielsweise schreibt die Soziologin Karin Priester im Kontext der
Rheinlandbesetzung nach dem ersten Weltkrieg über „Mischlingskinder
von deutschen Müttern und schwarzen Soldaten“
(19). Weißsein wird hier über die Nation codiert: mit „deutschen
Müttern“ meint Priester
Weiße deutsche Mütter.
Schwarzsein ist markiert und ebenfalls mit der Imagination nationaler
Zugehörigkeit verbunden: Mit den Schwarzen Soldaten sind Schwarze
französische Soldaten gemeint. Priester reproduziert mit diesen
Konstruktionen ein Bild von Deutschland als „rassisch“ reiner
Weißer Gemeinschaft, in der Schwarze Anwesenheiten als zeitlich begrenzte
und ausländische definiert sind.
Codiertes Weißsein und markiertes Schwarzsein begegnen auch in
Definition von Rassismus: „Rassismus ist die Summe aller
Verhaltensweisen, Gesetze, Bestimmungen und Anschauungen, die dazu
führen, schwarze Menschen [...] als minderwertig auszugeben und sie
entsprechend zu beurteilen und zu behandeln.“
(20) Wer beurteilt?
Wer behandelt? Weiße als Rassismus-Praktizierende und Weißsein als
zentrale Machtinstanz innerhalb Weißer Vorherrschaft bleiben auch hier
unbenannt.
Die zweite Tendenz hegemonialer Rassismusforschung setzt die Existenz von
„Rasse“konstrukten voraus, bezieht es aber nur auf die sogenannten
„Anderen“. Bei den renommierten RassismusforscherInnen Margret
Jäger und Siegfried Jäger hört sich das so an:
„Unter Rassismus begreifen wir eine Einstellung [...], bei der Menschen,
die anders aussehen und/oder andere Sitten und Gebräuche pflegen als die
Mehrheit der Bevölkerung [...], als ‚Rasse’ konstituiert und
negativ beurteilt werden [...].“
(21)
Menschen, die „anders aussehen“, werden „als Rasse“
konstituiert. „Rasse“ haben also nicht alle, sondern nur die
„Anderen“, die Einen und Eigentlichen, die Mehrheit nämlich,
fällt aus dem „Rasse“-Paradigma heraus. Rassifiziert sind hier
die sog. „Nicht-Weißen“, während die Weiße Mehrheit
„farblos“ erscheint. Weißsein ist in dieser Definition
aparadigmatisch.
Die dritte Tendenz markiert sowohl Weißsein als auch Schwarzsein,
allerdings nur im Hinblick auf andere Länder. Das Schema, welches in der
bundesdeutschen Migrationsforschung häufig begegnet, folgt stets der
gleichen Logik: in den USA (oder Großbritannien/ Kanada/ Frankreich
etc.) gibt es Schwarze und Weiße und vielleicht Menschen of Color, in
Deutschland gibt es Deutsche und Ausländer. In einer Aufzählung
benennt die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim, wer in Deutschland, den USA
und Großbritannien als normativ einheimisch gilt: „der
Normaldeutsche, der weiße US-Amerikaner, der weiße Brite“
(22). Weiße gibt’s nur anderswo, nicht bei
„uns“.
Dieser – wenn auch sehr grob skizzierte – Überblick macht
deutlich, dass hinsichtlich der hegemonialen Rassismusforschung von einer
kritischen Auseinandersetzung mit der Verhältnisbestimmung von
Weißsein und Schwarzsein keine Rede sein kann.
Warum? Der Grund ist der sogenannte
cultural turn, d.h. die Auffassung,
„Rasse“ sei out. Bis 1945 wäre die Kategorie relevant, heute
nicht mehr. Heute, so die hegemoniale Rassismusforschung, geht es um die
Differenzlinien „Kultur“ und „Sprache“ und mithin um einen
kulturalistischen Rassismus, der Menschen aufgrund ihrer kulturellen Herkunft
und Sprache diskriminiert. Kurz: Kultur, nicht Körper. Nur blenden diese
Ansätze die Erfahrungen einer Gruppe aus, die deutsch ist, die keinen
Migrationshintergrund hat, die keine andere Sprache spricht noch einer anderen
Kultur angehört: Deutsche of Color. Sie erleben
„Ausländerfeindlichkeit“ wegen ihres Aussehens.
III. Verschiedene Ausrichtungen der kritischen Weißseinsforschung in
Deutschland
An jede Richtung bundesdeutscher Rassismusforschung müssen grundlegende
Fragen gerichtet werden: Wie definiert der jeweilige Ansatz das
Verhältnis von Erkenntniskritik zu Gesellschaftskritik? In welchem
Referenzrahmen wird die Forschung jeweils verortet? Wird auf Schwarze
Theoriebildung Bezug genommen? An wen ist die Forschung adressiert?
Ich möchte zwei grobe Richtungen beschreiben: zunächst die eine, die
sich innerhalb des postkolonialen Referenzrahmens verortet. Sie richtet den
Blick gleichermaßen auf Weißsein als Konstrukt
und als
Realität, als Fiktion
und als Tatsache. Diese Ausrichtung der
kritischen Weißseinforschung ist an die Traditionen der Schwarzen
Wissensproduktion gebunden, welche Erkenntnis- und Gesellschaftskritik als
unauflöslich zusammengehörig definiert und eine (selbst)reflexive
Auseinandersetzung fordert, welche sich sowohl auf Weiße als auch auf
Menschen of Color bezieht. Ihre Herausforderung besteht darin,
Vergesellschaftungsprozesse innerhalb struktureller Machtdimensionen zu
erfassen und gleichzeitig unterschiedliche und widersprüchliche Formen
von Aneignungen und Verarbeitungen dieser Dimensionen präzise zu
analysieren.
Diese Richtung arbeitet dekonstruktivistisch, insofern „Prozesse der
Dekonstruktion
weißer Normalitäten [...] integrierte und
essentielle Bestandteile der vielschichtigen Schwarzen Befreiungs- und
Widerstandskämpfe in
weißen hegemonialen
Machtzusammenhängen“ darstellen
(23). Folglich verbindet
sich hier Dekonstruktion mit dem Festhalten an Identitätspolitik: Es gibt
Schwarze und Weiße Identitäten, unterschiedliche Positionierungen
innerhalb der Matrix der Dominanz und folglich unterschiedliche
Machtpositionen. Diese Ausrichtung der kritischen Weißseinsforschung
definiert sich explizit als herrschaftskritisch, daher werden diese
unterschiedlichen Machtpositionen sehr ernst genommen.
Die andere Richtung der Weißseinsforschung argumentiert gegen
Identitätspolitik, weil diese sich auf Kategorien stützt, die selbst
rassistisch seien. Sie betonen, dass es sich bei „Rasse“‚
„Weißsein“, „Schwarzsein“ etc. um Konstruktionen
handelt, die es als solche zu entlarven gilt. D.h. „Weiß“,
„Schwarz“, „of Color“ sind Erfindungen, und wenn man diese
Begriffe weiter benutzt, wiederholt man eine Gewalt, die ja bekämpft
werden soll. Die Psychologin Martina Tißberger beispielsweise lehnt die
Verwendung des Begriffs „Weißsein“ ab, weil er sich auf eine
Identitätsposition bezieht; sie verwendet nur den Begriff
„whiteness“ als Ausdruck sprachlicher und sozialer
Konstruktion
(24). Die Abkehr von der Identitätspolitik beinhaltet
auch den Nichtbezug auf postkoloniales Denken und Schwarze Theoriebildung. In
den Publikationen wird die eigene Positionierung als für die
Erkenntnisgewinnung irrelevant betrachtet und folglich nicht benannt.
Bei diesen radikal dekonstruktivistischen Ansätzen tritt der Aspekt der
Realität, d.h. den
realen Folgen der Konstrukte (beispielsweise
die Privilegien, über die Weiße verfügen) in den Hintergrund
und damit die Bedeutung rassifizierter Subjektpositionen. Vereinfacht gesagt:
Wenn Weißsein nichts anderes als ein Konstrukt ist, dann gibt es kein
„Weißsein“, keine „Weißen“ und folglich auch
keine „Weißen Privilegien“.
Schwarze intellektuelle und aktivistische Öffentlichkeiten in Deutschland
verfolgen die Entwicklung dieser Richtung äußerst kritisch, denn
dekonstruktivistische Ansätze sind problematisch, wenn sie die Macht
realer Gewaltverhältnisse trivialisieren und die tatsächlichen
Auswirkungen von Konstruktionsprozessen aus dem Blick geraten. Die
einseitige Betonung des fiktionalen Charakters von Weißsein läuft
außerdem Gefahr, Weißsein zu entpolitisieren und ist verbunden
mit einer Abwehr von „praxis- nd handlungsorientierten lokalen
Schwarzen Kritiken und einer dahingehenden Auseinandersetzung mit dem eigenen
Weißsein“
(25). Wenn Weißseinsforschung dem Motto
folgt „Wir brauchen keine Schwarzen, um uns mit Whiteness auseinander
zu setzen“, reprä[[opthyphen]]sentiert sie lediglich eine
Rezentrierung Weißer Normativität. Zwar stellt diese Richtung
„die Diskursivität von Weißsein in den Fokus der
Auseinandersetzung, verschleiert jedoch die privilegierte Position des
weißen sprechenden Subjektes.“
(26)
IV. Chancen und Grenzen der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland
Ich bin skeptisch bezüglich einer Weißseinsforschung, die sich
vorwiegend und ausschließlich im akademischen Setting verortet und in der
das Wort „Herrschaftskritik“ nicht vorkommt. Und ich denke, es wird
genau diese Art von Forschung sein, die sich langfristig an Universitäten
etablieren wird. Sie ist attraktiv, weil sie suggeriert, Weiße
könnten Weißsein „studieren“ wie jeden beliebigen
Forschungsgegenstand, als wäre eine säuberliche Trennung zwischen
Weißsein als „Thema“ und Weißer
Erfahrung von
Dominanz und Privilegien möglich.
Vermutlich wird sich
Weißseinsforschung darüber hinaus als alleiniges beziehungsweise
vorrangiges Arbeitsterrain Weißer WissenschaftlerInnen konsolidieren,
die Schwarze Analysen marginalisieren oder gänzlich ausblenden. Das war
die schlechte Nachricht.
Nun kommt die gute: Es gibt Foren, innerhalb derer kontrovers diskutiert wird
und die sich dezidiert auf Zusammenhänge Schwarzer Erkenntnisproduktion
beziehen. Ein solches Forum war zum Beispiel das an der Universität
Mainz angesiedelte Projekt „Black European Studies“
(27).
Solche Foren, deren Inhalt die Auseinandersetzung mit der
Normativität von Weißsein und ihren Effekten als ein politisches
Projekt der Herrschaftskritik bildet, gründen in dem Wissen, dass
„Rasse“ ein Mythos mit sehr realen Folgen ist. In den Worten von
Colette Guillaumin:
„Race does not exist. But it does kill people.“(28)
Rasse existiert nicht, doch sie tötet Menschen.
Anmerkungen
(1) Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus.
München 2008, 272.
(2)
Ausführlicher dazu vgl. Eske Wollrad: Weißsein im Widerspruch.
Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion.
Königstein/Taunus 2005, 31-42.
(3)
Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar: Einleitung.
In: Dies. (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und
Widerstand in Deutschland. Münster 2007, 12.
(4)
Paul Mecheril: Rassismuserfahrungen von Anderen Deutschen – eine
Einzelfallbetrachtung. In: Mecheril, Paul, Teo, Thomas (Hg.): Psychologie und Rassismus. Hamburg 1997, 198.
(5) Vgl. Annita Kalpaka, Nora Räthzel: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch
zu sein. Rassismus in Politik, Kultur und Alltag. Köln 1994.
(6) Nicola Lauré al-Samarai: Unwegsame Erinnerungen: Auto/biographische
Zeugnisse von Schwarzen Deutschen aus der BRD und der DDR. In: Marianne
Bechhaus-Gerst, Reinhardt Klein-Arendt (Hg.): AfrikanerInnen in Deutschland und
Schwarze Deutsche – Geschichte und Gegenwart. Münster 2004, 199.
(7) Kien Nghi Ha,: Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle
Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin 2004, 69.
(8) Ha, al-Samarai, Mysorekar 2007, 21.
(9) Noah Sow, a.a.O., 274.
(10) hg. Katharina Oguntoye, May Opitz und Dagmar Schultz.
(11) hg. Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt.
(12) Toni Morrison: Im Dunkeln spielen. Reinbek 1995, 125.
(13) so der Anthropologe Wilhelm Mühlmann, zit. n. Jan Pieterse Nederveen:
White on Black. Images of Africa and Blacks in Western Popular Culture. New
Haven, London 1992, 47.
(14) Kant, Immanuel: Von den verschiedenen Rassen der Menschen. (1775) In: Kant's
Werke, Bd.II, Berlin 1905, 433.
(15)
Kant, Immanuel: Physische Geographie. Hg. F. Th. Rink. In: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. IX. Berlin/ Leipzig 1923, 316.
(16)
Kant, Immanuel: Von den verschiedenen Rassen der Menschen. (1775) In: Kant‘s Werke, Bd. II, Berlin 1905, 441.
(17)
Kant, Immanuel: (Reflexionen zur Anthropologie). In: Kant’s gesammelte Schriften. Bd. XV. Berlin/ Leipzig 1923, 878.
(18) Der Begriff der „Geanderten“ rekurriert auf Prozesse des „Anderns“, die Toni Morrison als „dismissive ‚othering’ of people“ (Toni Morrison: Playing in the Dark, New York 1993) bezeichnet –
leider in der deutschen rororo-Übersetzung mit „abfälliges
Ausgrenzen von Menschen“ (Morrison, a.a.O. 1995, 13) widergegeben. Jedoch geht es beim
„othering“ nicht um Ausgrenzung, sondern um die gewaltvolle
Herstellung bestimmter Menschen als „Andere“. Der Begriff der „Geanderten“ soll dies deutlich machen.
(19) Karin Priester: Rassismus. Münster, 2003, 236.
(20) Lida van den Broek: Am Ende der Weißheit. Berlin 1988, 32.
(21) Margret Jäger, Siegfried Jäger: Rassistische Alltagsdiskurse. In:
Nora Räthzel (Hg.): Theorien über Rassismus. Hamburg 2000, 278.
(22) Elisabeth Beck-Gernsheim: Wir und die Anderen. Vom Blick der Deutschen auf
Migranten und Minderheiten. Frankfurt/Main 2004, 170.
(23) Peggy Piesche: Das Ding mit dem Subjekt, oder: Wem gehört die
Weißseinsforschung? In: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt
(Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland. Münster 2005, 14.
(24)
Martina Tißberger: Die Psyche der Macht, der Rassismus der Psychologie
und die Psychologie des Rassismus. In: Martina Tißberger, Gabriele
Dietze, Daniela Hrzán, Jana Husmann-Kastein (Hg.): Weiß –
Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus. Critical Studies on Gender and Racism. Frankfurt am Main 2006, 13.
(25)
Peggy Piesche, a.a.O., 15.
(26)
Ebd., 17.
(27)
Vgl.:
www.best.uni-mainz.de.
(28)
Colette Guillaumin: Racism, Sexism, Power and Ideology. London 1995, 107.