Floris Biskamp
Orientalismus und Wahrheit
Wer sich kritisch mit dem Islam und den Zuständen in
den Ländern des Mittleren Ostens
(1) auseinandersetzt, wird oft
mit Vorwürfen der Islamophobie, des kolonialen oder imperialistischen
Denkens, des Eurozentrismus oder eben des Orientalismus konfrontiert.
Häufig wird diese Kritik ignoriert oder abgetan, was angesichts ihrer
Allgegenwart unangemessen scheint. Diese macht eine ernsthafte
Auseinandersetzung mit den theoretischen Ausgangstexten solcher Vorwürfe
nötig.
Einer von diesen ist Edward Saids erstmals 1978 erschienenes Hauptwerk
Orientalism (Said 2003). Dieses ist eines der Gründungswerke der
Postcolonial Studies und gilt mit einigem Recht als eines der einflussreichsten
Bücher der letzten Jahrzehnte. Die Auseinandersetzung mit diesem Werk kann
auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Da Said mehr als genug Angriffsfläche
bietet durch seinen polemischen Stil, seine propalästinensische und
antizionistische Parteinahme und nicht zuletzt dadurch, dass er, seines
Zeichens Professor für englische Literatur an der Columbia University, im
zarten Alter von 65 Jahren dabei fotografiert wurde, wie er sich als
Steinewerfer an der libanesisch-israelischen Grenze betätigte
erfolgt die Auseinandersetzung mit ihm häufig ebenfalls polemisch,
politisch und oberflächlich. Beispiele hierfür sind der Versuch von
Justus Reid Weiner, Said dadurch zu diskreditieren, dass er dessen
autobiographische Angaben über seine frühe Jugend in Palästina
anzweifelte (vgl. Weiner 1999) oder Edward Alexanders Behauptung Said sei ein
Terrorideologe, der Professor of Terror (Alexander 1989).
Doch obwohl es genug Möglichkeiten und Gründe dafür gibt, Said
polemisch und politisch zu diffamieren, wäre es in diesem Rahmen eher
unfruchtbar. Stattdessen gilt es, Überlegungen anzustellen, was man mit
seinem Werk, das nun einmal existiert und einflussreich ist, anfangen soll und
wo die methodischen Ursachen der politischen Probleme liegen
(2).
I Saids Thesen
The Orient was almost an European invention and had been since
antiquity a place of romance, exotic beings, haunting memories and landscapes,
remarkable experiences Edward Said (2003, S. 1)
Dem Versuch, Edward Saids Kernthesen wiederzugeben, ist eines vorwegzuschicken:
dass nämlich eine bündige und eindeutige Darstellung schwierig ist,
da seinem Buch eben diese Eindeutigkeit oft fehlt und er für einige
Begriffe mehrere verschiedenen Definitionen anbietet, ohne jeweils zu
klären, welche er gerade nutzt und sein Buch insgesamt zahlreiche
unaufgelöste und oft unreflektierte Widersprüche enthält.
Dennoch kann man das Folgende mit ziemlicher Sicherheit sagen:
Gegenstand von Saids Buch ist Orientalismus, verstanden als der westliche
Diskurs über den Orient oder genauer: über das, was dieser als Orient
bezeichnet. Dieser Diskurs sei keinesfalls eine bloße Beschreibung
anderer Länder, die aufgrund von objektiven Gemeinsamkeiten als Orient
zusammengefasst werden. Die Scheidung in Orient und Okzident entspreche nicht
der Realität, habe mit Saids Worten keine ontologische
Stabilität (Said 2003, S. 17). Vielmehr habe sich der westliche
Diskurs den homogenen Orient erst diskursiv als Anderes geschaffen und diesen
als irrational, mystisch und westlicher Herrschaft bedürftig dargestellt.
Im Einzelnen bezeichnet Said drei Gegenstände oder Tätigkeiten als
Orientalismus:
- das Schreiben westlicher AutorInnen über den Orient, beispielsweise
durch wissenschaftliche Schriften der Orientalistik, Linguistik, Anthropologie
oder Politikwissenschaft, durch Romane, Gedichte oder Reiseberichte
- die grundsätzliche, für das westliche Selbstverständnis
unabdingbare Scheidung zwischen uns, dem Okzident und dem Anderen,
dem Orient, ohne die der Westen sich gar nicht als Westen habe konstituieren
können
- die imperiale und koloniale Praxis im Orient, sowie der sie stützende
Diskurs.
Diese drei praktischen und diskursiven Elemente bezeichnet Said jeweils als
Orientalismus. Dabei gibt er zwar zu, dass sie jeweils etwas Unterschiedliches
bezeichnen, doch hält er ihre gegenseitige Interdependenz offenbar
für groß genug, um im Verlaufe seines Buches immer bloß von
Orientalismus zu sprechen, ohne den Begriff genauer zu qualifizieren.
Orientalismus bedeutet bei Said also sowohl jedes einzelne dieser drei Elemente
als auch einen Überbegriff, der alle drei beinhaltet (Said 2003, S.
2ff.).
Die so verursachte Verwirrung mindert Said etwas, indem er in einem
späteren Kapitel noch die Scheidung in manifesten und latenten
Orientalismus einführt. Anhand dieser lässt sich sehr gut verstehen,
wie Orientalismus nach Said funktioniert. Unter
manifestem Orientalismus
versteht er all die konkreten Handlungen und Äußerungen, die der
Beherrschung und Beschreibung des Orients durch den Westen dienen. Diese
manifesten Aktivitäten seien jedoch keinesfalls individuelle und
voneinander unabhängige Taten. Vielmehr läge ihnen ein nicht immer
konkret fassbarer oder auch nur bewusster Diskurs zugrunde, der die Einzelnen
diskursiven Ereignisse präge, lenke und einschränke. Diesen nennt
Said
latenten Orientalismus. In ihm seien all die Grundannahmen
über den Orient zu finden, die Orientalismus ausmachen: dass der Orient
ein mystisches Land östlich des Westens sei, in dem irrationale Menschen,
feminisierte Männer und mythisch verführerische und willige Frauen
leben, deren Vorfahren Schöpfer großer Sprachen und Religionen
waren, die nun aber in einer minderwertigen Kultur in ewigem Stillstand leben
und der westlichen Führung und Herrschaft bedürfen, um in halbwegs
menschliche Zustände übergehen zu können andererseits
aber unkontrolliert auch eine barbarische Gefahr für die westliche
Zivilisation darstellen. Rassentheoretische und ethnozentristische
Vorstellungen seien ebenfalls Teil des Diskurses. Dieses Set an
Überzeugungen präge die Wahrnehmung des Orients.
Wenn also westliche SprecherInnen oder AutorInnen sich zum Orient
äußern, greifen sie laut Said bewusst oder unbewusst fast
unvermeidlich auf den latenten Orientalismus zurück. Andererseits diene
der latente Orientalismus auch den RezipientInnen dieser manifesten
Äußerungen als Bewertungsmaßstab für das Gehörte
oder Gelesene. Dies führe dazu, dass, wenn es aufgrund individueller
Leistungen doch zu Äußerungen kommt, die den orientalistischen
Annahmen widersprechen, diese automatisch marginalisiert, also entweder gar
nicht wahrgenommen oder als absurd abgetan würden (Said 2003, S.
201-225).
Nachdem ich dargestellt habe, was bei Said die wesentlichen Elemente des
Orientalismus sind, und wie dieser funktioniert, komme ich nun zu seinem
Wirkungsfeld, seiner Verbreitung und seiner Geschichte.
Als Orient verstanden worden seien grundsätzlich alle Länder
Nordafrikas und Asiens, doch beschäftigt sich Saids Buch allein mit dem
Diskurs über die islamischen und meist auch nur die arabischen
Länder. Dies begründet Said lapidar damit, dass er sich hier am
besten auskenne, behauptet aber auch, hier sei der Orientalismus am
extremsten.
Nach Saids These nahm der latente Orientalismus seinen Ausgang in der Zeit der
alten Griechen. Begonnen habe er schon bei gewissen Äußerungen in
Homers Ilias, um zum ersten Mal nach den Perserkriegen in den Schriften von
Aeschylus und Herodot zu kulminieren. Als im Übergang von Mittelalter zu
Neuzeit das westliche Bewusstsein begann, Form anzunehmen, sei auch dies in
expliziter Abgrenzung vom andersartigen Orient geschehen; als beispielhaft
nennt Said Dantes Inferno. Dieses Denken habe sich in der modernen Philosophie,
auch bei dem Anspruch nach universalistisch emanzipatorischen Autoren wie Mill
und Marx, fortgesetzt.
Den vorläufigen Höhepunkt habe der Orientalismus dann in der Zeit des
europäischen Kolonialismus gefunden. Als paradigmatisch hierfür und
gleichzeitig als Geburtsstunde des modernen Orientalismus gilt Said die
Eroberung Ägyptens durch Napoleon 1798. Dieser ließ sich von einem
Akademikerstab begleiten, der das Land, seine Geschichte und Gesellschaft
verstehen sollte. Hierin sieht Said den Willen, den Orient nicht nur politisch
und militärisch, sondern auch epistemologisch zu beherrschen. Dies habe
sich bis zum Ende der europäischen Kolonialreiche fortgesetzt, als
paradigmatische AutorInnen führt Said vor allem französische und
britische Fachorientalisten, Kolonialbeamte und Lords, sowie Dichter an.
Als bis dato letzte Phase dieses Orientalismus sieht Said die ökonomische,
politische, militärische und intellektuelle bzw. epistemologische
Beherrschung des Mittleren Ostens durch die USA nach dem Ende des 2.
Weltkrieges. Hier verweist Said sowohl auf Akteure des politischen
Establishments als auch auf PolitikberaterInnen und
PolitikwissenschaftlerInnen. 2003 erschien die 25jährige
Jubiläumsausgabe mit neuem Vorwort, in dem Said auch die Ereignisse nach
9/11 und um den letzten Irakkrieg mit Hilfe seines Orientalismusbegriffes
deutet.
Insgesamt behauptet Said nicht nur, dass es einen solchen orientalistischen
Diskurs im Westen gibt, er geht so weit zu behaupten, dass fast jede
Äußerung über Länder des Mittleren Ostens, die im Westen
getroffen wird, Teil dieses Diskurses ist. Er versteigt sich sogar zu der
Behauptung, es sei correct that every European, in what he could say
about the Orient, was consequently a racist, an imperialist, and almost totally
ethnocentric (Said 2003, S. 204).
II Der Argumentationsstil Edward Saids
Saids amateurish and ahistorical essentializing of an
Orientalism-as-textualized discourse from Aeschylus to Bernhard Lewis has
polemical force, but only at the expense of methodological precision and
rhetorical consistency Daniel Martin Varisco (2007, S. 22)
Um zu entscheiden, was mit Saids Thesen anzufangen ist, ist es notwendig, sich
seinen Argumentationsstil genauer anzuschauen. Hierbei werde ich mich in erster
Linie auf Daniel Martin Variscos
Reading Orientalism (2007)
stützen. Einerseits, weil dieser für sein Buch Saids Sprache und
Argumentation sehr sorgfältig analysiert hat, aber mehr noch, weil er
dabei leistete, was ich nicht konnte: sämtliche von Said referenzierte
Literatur zu lesen und die Schlüssigkeit von Saids Umgang mit den Zitaten
zu prüfen.
Zunächst ist allgemein anzumerken, dass Saids Argumentation in
Orientalism nicht immer besonders klar ist. Dies fängt mit den oben
angesprochenen Ungenauigkeiten und Unklarheiten bei den Definitionen an und
zeigt sich auch im Umgang mit seinen breiten Thesen und
Widersprüchlichkeiten
(3). Schwerer als diese Ungenauigkeiten im
Stil wiegen jedoch Saids Versuche, seine Thesen zu belegen, bzw. seine Art und
Weise, mit Literatur umzugehen. Er hat nämlich nicht etwa die im Fach
relevante Literatur der Vergangenheit und Gegenwart kritisch gelesen und dann
die Argumente, die für und wider seine Thesen sprechen, herausgesucht und
gegeneinander abgewogen, um so widersprüchliche Tendenzen im Diskurs
darzustellen. Vielmehr hat er sich AutorInnen, Texte und Zitate so
ausgewählt, dass es zu seinen breiten zugespitzten Thesen passt, und
enthält den LeserInnen Widersprüchlichkeiten meist vor.
Said wird dementsprechend vorgeworfen, AutorInnen, die seiner Argumentation
Probleme bereiten könnten, schlicht zu ignorieren. Meist wird sein
Auslassen des deutschen Orientalismus kritisiert (vgl. Varisco 2007, S. 95-140;
Warraq 2007, S. 24-28, S. 45-49). Zwar schreibt Said, dass dieser sich positiv
vom Rest abhob und begründet seine Auslassung damit, dass der deutsche
Orientalismus aufgrund mangelnder kolonialer Interessen weniger orientalistisch
und für ihn weniger relevant gewesen sei. Doch hält sowohl Varisco
als auch Ibn Warraq dies für wenig schlüssig, da sich die Länder
nicht so einfach trennen ließen. Als Beispiel nennen beide Ignatz
Goldziher, der überwiegend auf deutsch publizierte und dementsprechend in
Orientalism nicht diskutiert wird, der aber auch international als einer
der wichtigsten Orientalisten galt und laut Varisco auf den englischen
Orientalismus mehr Einfluss hatte als einige der von Said diskutierten
Orientalisten (Warraq 2007, S. 45ff., Varisco S. 89ff., Said 2003, S. 18ff.).
Ähnliches gelte auch für andere Autoren, die Achtung für den
Orient und Kritik an Vorurteilen geäußert hätten
(4).
Andererseits seien einige der von Said als paradigmatisch genannten AutorInnen
weder in ihrer Zeit einflussreich gewesen, noch tauchten sie in aktuellen
Bibliographien und Kanons auf oder hätten in der Geschichte des
Orientalismus weitaus weniger Gewicht als in
Orientalism. So ist Ernest
Renan der Autor, dem Said die meisten Seiten widmet, was laut Varisco und
Warraq seiner Bedeutung keineswegs entspräche, habe er doch auch in
Frankreich und England weniger Einfluss auf den Orientalismus gehabt als ein
Goldziher. Zudem betont Ibn Warraq, dass sich Renan zuletzt von seinen
negativen Einstellungen zum Orient sogar distanziert habe, was Said ausspare
(Varisco 2007, S. 111ff., Warraq 2007, S. 45ff.).
So wie Said bei der Auswahl der AutorInnen vorgehe, verfahre er auch mit deren
Texten und Zitaten: Er sucht sich das zu seinen Thesen passende heraus und
ignoriert den Rest. Hinzu kommt, dass Said die Zitate höchst eigenwillig
interpretiert. Zur Illustration seines Umgangs mit seinem
Lieblingsfeind Bernhard Lewis: Dieser wird auch in Orientalism
über mehrere Seiten angegriffen. Said geht hierbei so weit, zuzugeben,
dass es von Lewis keine wirklich offen rassistischen oder abwertenden
Äußerungen gibt. Doch schließt er deshalb nicht auf
Lewis Harmlosigkeit; im Gegenteil erkennt er hierin eine perfide Taktik
von Lewis, um seine orientalistischen Neigungen zu verbergen. Als
Hauptbelastungsmaterial zitiert Said einen Absatz, in dem Lewis argumentiert,
dass es im Arabischen keine adäquate Übersetzung für das Wort
Revolution gebe. Das hierfür gebrauchte Wort entspräche eher dem
Begriff für sich erheben im Sinne des Aufstehens eines Kamels oder
für Aufgeregtheit. Nun geht es mir nicht darum eine Argumentation zu
verteidigen, die Aufgrund von etymologischen Überlegungen Schlüsse
über die Möglichkeit von sozialem Wandel zieht. Interessant ist aber,
was Said Lewis vorwirft: Der Bezug zum Kamel sei typisch
orientalistisch, die Aufregung ein typisch orientalistisches sexuelles
Cliché über Araber. Saids genaue Interpretation: In the end,
since Arabs are really not equipped for serious action, their sexual excitement
is no more noble than a camels rising up. Instead of revolution there is
sedition, setting up a petty sovereignty, and more excitement, which is as much
as saying that instead of copulation the Arabs can only achieve forplay,
masturbation, coitus interruptus. These, I think are Lewiss
implications (Said 2003, S. 315f.). Said enthält den LeserInnen
nicht nur vor, woher seine sexualisierte Interpretation stammt, sondern auch
dass Lewis diese Verwendungsweisen einem arabischen Wörterbuch entnahm
(Said 2003, S. 314-321, Warraq 2007, S. 41-43,).
Zu all dem hält Said es überhaupt nicht für nötig, zu
erwähnen, dass er keinesfalls der Erste ist, dem auffällt, dass die
wissenschaftliche und öffentliche Diskussion des Orients überladen
mit Vorurteilen und falschen Generalisierungen ist. Derartige Beiträge
finden sich auch von Seiten westlicher und orientalistischer Autoren schon im
19. Jahrhundert. Zur Zeit der Veröffentlichung von
Orientalism war
diese Erkenntnis in den Orientwissenschaften Standard und viele der von Said so
heftig kritisierten Texte waren keinesfalls mehr Teil des Fachkanons (Varisco
2007, S. 107ff.).
Zur Illustration von Saids Methode: Man stelle sich vor, ich hätte die
Absicht, einen Artikel über postkoloniales Denken zu schreiben und dieses
zu diffamieren. Dann würde ich die Werke der wichtigsten AutorInnen des
Bereichs, sowie einige weniger prominente Texte, die besonders negativ
auffallen, nach explizit antizionistischen Äußerungen absuchen
und genug finden. Dazu würde ich mir noch einige ähnliche
Argumente suchen, die zwar nicht von Autoren der postcolonial studies stammen,
aber in mein Konzept passen, insbesondere würde ich einige Zitate
einbauen, die den Antizionismus antijüdisch essentialisieren. Alles andere
sowohl anderslautende Aussagen der von mir angesprochenen AutorInnen als
auch andersdenkende postkoloniale AutorInnen würde ich schlicht
ignorieren und letztlich die These vertreten können: Postkoloniale Studien
sind ihrem Wesen nach nur ein akademisches Deckmäntelchen um
antisemitisches Ressentiment abzulassen. Dabei könnte man mit ein wenig
Mühe einen schlüssigen Text basteln, der wahrscheinlich einen Teil
der LeserInnen überzeugt und einen anderen verärgert. Intellektuell
redlich und erkenntnisfördernd wäre das aber kaum. Dies ist aber
methodisch recht genau, was Edward Said tut.
Eben das ist, was Polemik tut.
Nun geht es hier keinesfalls darum, Polemik per se abzulehnen. Als zugespitzte
Form der Kritik kann diese die legitime und oft nötige Funktion haben,
einem sonst marginalisierten Standpunkt Aufmerksamkeit zukommen zu lassen; und
das ist Said ganz egal, was man von ihm, seinen Thesen und seinem Stil
halten mag mit
Orientalism zweifelsohne gelungen.
Trotz der Mängel im Stil bleibt festzuhalten: Said hat unterm Strich
durchaus überzeugend dargelegt, dass es im Westen die Tradition gibt, sich
einen romantischen, mystischen und irrationalen Orient zu konstruieren, der
westlicher Herrschaft bedarf und dass diese Tradition mit ihren Vorurteilen oft
zu einer regelrechten Blockade des Verständnis der entsprechenden
orientalischen Länder führte. Nur ist dagegen auch zu
betonen, dass Said nicht der Erste war, der dies feststellte, und dass der
westliche Diskurs über den mittleren Osten keinesfalls in dieser Tradition
aufgeht denn dieser ist auch von Realitätsbezug und Empathie
geprägt, und neben den orientalistischen OrientalistInnen gab
und gibt es auch reflektierte AutorInnen.
Während eine solche Polemik also durchaus legitim sein kann, ist Vorsicht
geboten, wenn sie für bare Münze genommen wird, wenn ihre Thesen mit
der Wirklichkeit in eins gesetzt werden, und wenn diese Thesen letzten Endes
zum Maßstab der Dinge erhoben werden. Dann verliert die Polemik ihren
kritischen Gehalt und wird zum Dogma, zur Ausrede, um sich nicht mit der
Realität auseinanderzusetzen. Und genau dies passiert mit Saids Thesen
immer wieder. Dieses Problem ist in Saids methodischer Grundausrichtung
angelegt, die ich im folgenden dritten Teil diskutiere.
III Das methodische Grundproblem
Ideologie hieß dieser Theorie gesellschaftlich notwendig
falsches Bewusstsein, also der Gegensatz zu einem wahren, und war nur in diesem
Gegensatz zu bestimmen Theodor W. Adorno (1997, S. 585)
Saids Theorie liegen zwei Ansätze zugrunde: Einerseits foucaultsche
Diskursanalyse, andererseits das, was Said als Humanismus bezeichnet. Und diese
Mischung, das ist der zentrale Punkt dieses Textes, ist verhängnisvoll.
Foucaultianisch ist Said insofern, dass er den Orient nicht als eine Gruppe von
Ländern versteht, mit denen er sich auseinandersetzt, um ein richtiges
Bild von ihnen zu zeichnen. Stattdessen versteht er unter Orient eine
diskursive Konstruktion des Westens, die geprägt wurde, weil dieser in der
entsprechend machtvollen Position war, den Orient als Anderes zu bestimmen und
zu beherrschen. Dies führt Said nicht auf bewusste zielgerichtete
Handlungen Einzelner zurück, sondern betrachtet es als von
Machtkonfigurationen getriebenen, nicht absichtsvollen Prozess, als
Diskurs
(5). Hinzu kommt, dass die realen Zustände in den
Ländern des Mittleren Ostens und deren Dynamik diesen Diskurs für
Said in keiner Weise zu beeinflussen scheinen, dieser sich also nur aus sich
selbst, aus den Machtverhältnissen und dem Willen zum Imperialismus des
Westens speise.
An der Basis dieses Denkens liegt Nietzsches Zweifel an der Existenz und der
sprachlichen Darstellbarkeit einer einzigen objektiven Wahrheit, nach dem
sprachlich festgehaltene Wahrheit nur diejenige Illusion ist, von der die
Gesellschaft vergessen habe, dass es eine Illusion ist (vgl. Said 2003, S.
203f.). Hieraus scheint Said zu folgern, dass sprachliche Repräsentationen
nicht von der Realität, sondern nur von Macht geprägt seien. Da es
sich für Said bei jeder Darstellung also ohnehin immer um eine
Fehldarstellung handelt, liegt es ihm denkbar fern, eine Darstellung an dem,
was man landläufig ihren Realitätsgehalt nennt, zu messen. Dennoch
spricht Said stark wertend von der diskursiven Darstellung des Anderen; die
Grundlage dieser Wertung ist das, was Said als Humanismus
bezeichnet und zugleich seine zweite theoretische Basis.
Dass Saids Methode foucaultianisch ist, fiele auch dann auf den ersten Blick
auf, wenn er dies nicht explizit sagen würde. Eine Bezeichnung für
seinen Ansatz, die sich dagegen nicht gerade aufdrängt, ist
humanistisch doch benutzt Said diese Vokabel fortlaufend an
prominenter Stelle um seine Perspektive zu charakterisieren
(6). Was
versteht er also darunter? Mit
humanistisch meint Said einen Ansatz, der
dem Anderen mit Empathie gegenübertritt, der also nicht wie der
Orientalismus aus einer Position der Macht eine Repräsentation des Anderen
formuliert und diese dann durchsetzt, sondern der die Selbstrepräsentation
des Anderen ernst nimmt.
Dies führt zunächst zu dem Problem, dass ein solcher Humanismus kein
Humanismus der Universalität, sondern einer der Beliebigkeit ist. Dies ist
nicht der Humanismus von der Utopie der freien und gleichen Individuen mit
universellen und unveräußerlichen Rechten, sondern ein Humanismus,
in dem sich alle gegenseitig die Weltsicht egal ob freiheitlich und
emanzipatorisch oder repressiv bestätigen. Ein Humanismus, der, um
das extreme Beispiel zu benutzen, zunächst auch einem deutschen Nazi in
seinem Bewusstsein, Glied der Volksgemeinschaft zu sein, empathisch
bestätigen müsste.
Nur eine Art des Bewusstseins wird diesem Humanismus Saids zum Problem
und dadurch wäre er doch wieder in der Lage Nazis zu
kritisieren
(7) nämlich imperialistisches, verstanden als
solches, das dem Anderen also eine gewisse Repräsentation aufzwingt.
Aufgrund dieser theoretischen Grundausrichtung schweigt Said also von den
Zuständen in den Ländern des mittleren Ostens und spricht nur vom
westlichen Diskurs über diese Länder. Dies wäre als
Einschränkung des Gegenstandes für einen einzelnen Text freilich
völlig legitim, doch wird es bei Said und seinen EpigonInnen zur
methodischen Grundausrichtung. Der Diskurs wiederum wird für Said genau da
zum Problem, wo er im eben dargelegten Sinne imperialistisch auftritt.
Auf den ersten Blick mag dies nach kohärenten theoretischen
Grundentscheidungen aussehen, doch ändert sich dieser Eindruck recht
schnell, wenn man diese Prämissen in Aktion betrachtet. Denn die
gesellschaftliche Realität, die Said so wenig interessiert, ist nun einmal
so gestaltet, dass erhebliche Unterschiede etwa zwischen den Ländern
Westeuropas und Nordamerikas einerseits und denen des Mittleren Ostens
andererseits bestehen. Diese Unterschiede sind keinesfalls nur
Machtunterschiede, sondern auch solche der gesellschaftlichen Entwicklung und
der Freiheit in der Gesellschaft wie es alljährlich in dem von
arabischen WissenschaftlerInnen verfassten
Arab Human Development Report
belegt wird. Wenn nun eine westliche Wissenschaftlerin eben dies konstatiert,
muss sie von Saids Warte aus sofort als Imperialistin erscheinen. Denn obwohl
sie keinesfalls einen ontologischen Unterschied zwischen Okzident und Orient
behauptet, sondern einfach nur beide an denselben als universell verstandenen
Standards misst, erdreistet sie sich doch zu einer verbalen Repräsentation
der Länder des Orients, nach der diese verhältnismäßig
statisch und rückständig sind.
Freilich ist die hier angenommene universelle Gültigkeit einiger im Westen
entstandener Freiheitswerte keinesfalls selbstverständlich, sondern bedarf
theoretischer Reflexion und Begründung. Doch leistet Said eine solche
Diskussion gerade nicht, spricht diese Problematik nicht einmal ernsthaft an.
Was er stattdessen tut ist den zwei oben vorgestellten Grundannahmen eine
dritte unausgesprochen hinzuzustellen: nämlich die, dass es keine realen
Unterschiede zwischen den als Orient und den als Okzident bezeichneten
Ländern gibt und jeder behauptete Unterschied nur eine orientalistische
Konstruktion sei.
Maßstab für die Bewertung einer Äußerung ist nun nicht,
inwiefern eine Behauptung der Realität entspricht, also im allerflachsten
Sinne wahr ist, sondern einzig mit aller Gewalt zu der
subsumtionslogisches Denken fähig ist , ob sie äußerlich
dem entsprechen, was Said als orientalistische Aussagen fasst. Beispiele
hierfür lassen sich zuerst bei Said selbst finden: Behauptet etwa jemand,
dass der westliche Nationalismus und Imperialismus eine der wichtigsten
Triebkräfte für den Modernisierungswillen in der arabischen Welt war,
sagt Said: Orientalismus ohne darauf einzugehen, dass dies auch unter
arabischen Autoren eine verbreitete Ansicht ist (Varisco 2007, S. 88f.).
Ähnlich schräg ist Saids Verhältnis zur Linguistik. Wenn er
über europäische Forscher schreibt, die Hebräisch und Arabisch
in eine, Latein, Griechisch und Sanskrit in eine andere Sprachfamilie
einteilten, erweckt er den Eindruck, es handle sich um eine bösartige
orientalistische Handlung. Dass eine solche Einteilung schlicht der
Realität entspricht und auch heute noch in der Linguistik unumstritten
ist, interessiert ihn nicht, sondern nur die äußere Form der
Aussage: dass ein Unterschied aufgemacht wird (vgl. Said 2003, S. 98; Warraq
2007, S. 25).
Dieses Problem lässt sich auch an Saids Umgang mit Marx illustrieren.
Dieser schrieb in seinem kurzen Text The British Rule in India, die
Kolonialherrschaft bringe zwar Leid über die Bevölkerung Indiens, man
dürfe dies aber keinesfalls zum Anlass nehmen, das präkoloniale Leben
dort zu romantisieren. Schließlich sei dieses nicht zu trennen von
orientalischer Despotie, die mit ihren personalen
Herrschaftsbeziehungen überwunden werden müsse, bevor Emanzipation
möglich sei. Dies dachte Marx freilich auch von prämodernen
Herrschaftsbeziehungen im Rest der Welt und auch in Europa es handelt
sich schlicht um ein Bestandteil seiner allgemeinen Theorie und keinesfalls um
ein Theorem, das er sich speziell für den Orient ausgedacht hätte.
Anstatt jedoch die Theorie als solche infrage zu stellen oder nachzuweisen,
dass Marx sie dem Orient gegenüber anders vertrete als woanders, sucht
Said nur nach Sätzen, die bei Marx orientalistisch klingen. Diese findet
er, insbesondere in dem den Marxschen Text abschließenden Zitat aus
Goethes Westöstlicher Diwan, und beweist damit
aufs Neue, was er wollte: wenn WestlerInnen gleich welcher Couleur über
den Orient schreiben, orientalisieren sie (Said 2003, S. 153-157).
IV Vorschlag zum Umgang mit Saids Orientalismuskonzept
- Said hat wenn auch nicht als Erster überzeugend
dargelegt, dass es im Westen einen Diskurs über den Orient gibt, der
diesen als unterlegen und zu beherrschend darstellt und dass dieser Diskurs
für das Bild mittelöstlicher Länder prägend war und zum
Teil ist(8)
- Wenn Said aber behauptet, dass alles, was im Westen über diese
Länder gesagt wird, aus diesem Diskurs ableitbar und
imperialistisch ist, überspitzt er. Seine Versuche, dies zu
belegen, wirken nur plausibel, weil er einen unredlichen Umgang mit Literatur
pflegt.
- Der westliche Diskurs über den Orient ist mehr als eine Maschine, die
die ewiggleichen Vorurteile und Bilder reproduziert. Er nimmt auch reale
Geschehnisse in sich auf, besteht neben Machthunger auch aus Realismus,
Neugierde und Empathie(9).
- Will man Saids Begriff des Orientalismus vor den Übertreibungen seines
Schöpfers retten, muss man ihn zurechtstutzen: Er bezeichnet dann eine
Geisteshaltung, ein Set von Vorurteilen und Neigungen gegenüber dem
Orient und ist demnach wohl als eine spezifische Form von Rassismus
und Kulturalismus zu kritisieren. Es scheint durchaus plausibel, dieser
spezifischen Form aufgrund ihrer Langlebigkeit und inhaltlichen Konstanz einen
eigenen Namen eben Orientalismus zu geben.
- Es ist keinesfalls legitim eine These als orientalistisch zu denunzieren,
nur weil sie in ihrer Form dem ähnelt, was Said als
orientalistisch bezeichnet. Wenn beispielsweise jemand anspricht,
dass das Regime in Teheran versucht, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen
und dass dies eine existentielle Bedrohung für den Staat Israel ist, dann
kann man dies nicht einfach mit dem Verweis abbügeln, es handele sich um
eine bloße Fortführung des abendländischen Diskurses über
eine morgenländische Bedrohung, sei Feindbildkonstruktion. Wenn
neokonservative AutorInnen vor dem Irakkrieg ausführten, das irakische
Volk sei ohne äußere Hilfe nicht imstande, das Baath-Regime
abzuschaffen und sich zu demokratisieren, reicht es nicht, das einfach als
neokoloniale Arroganz gegenüber einem orientalischen Volk zu diffamieren.
Beide Aussagen sind zunächst auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Kurz: KritikerInnen kommen nicht an der mühevollen Aufgabe vorbei, sich
mit der Realität auseinanderzusetzen.
- Im Bereich deklarativer Aussagen über den Islam und den Mittleren Osten
gäbe es noch mindestens drei Grundlagen, einen Standpunkt als
orientalistisch zu kritisieren. Erstens, wenn diese Aussagen, die
orientalistischen Vorurteile reproduzieren und die Unwahrheit sagen, zweitens,
wenn sie reale Unterschiede essentialisieren oder biologisieren und drittens,
wenn sie die einzelne reale Begebenheiten der islamischen Welt meist
schlicht Zitate aus dem Koran herausgreifen und als spezifisch islamisch
und antiemanzipatorisch kritisieren, ohne gegenteilige Tendenzen zu
erwähnen und ohne im Vergleich zu überprüfen, ob all dies nicht
auch im Christentum oder Judentum gegeben ist. Problematisch sind weiterhin
solche Aussagen, die behaupten, es gäbe in Deutschland kein Ressentiment
gegen den Islam.
Zudem ist auch da Vorsicht geboten, wo westlicher AutorInnen all ihre Zeit und
Energie in das Unternehmen investieren, die Unzulänglichkeiten der
Gesellschaften islamischer Länder darzulegen und die Ursache für
diese wie selbstverständlich im Islam suchen.
- Im kulturellen und kulturindustriellen Bereich bleiben solche Produkte
Gegenstand der Kritik, die kaum mehr tun, als die alten Bilder vom mystischen
und gefährlichen Orient zu reproduzieren
V Junge Spartiaten, Junge Freiheit, Junge Welt
Zur Illustration drei Beispiele für kritikwürdigen Orientalismus von
heute:
Junge Spartiaten sind die kämpferischen Helden in
300 und stehen
hier als Beispiel für kulturindustriellen Orientalismus. Orientalistische
Bildersprache findet man selten deutlicher als in Zack Snyders Filmadaption von
Frank Millers Comicadaption von der Darstellung der Schlacht bei den
Thermopylen beim griechischen Chronisten Herodot, wo die persischen Heerscharen
eher an Mordors Ork-Armeen
(10) aus
Herr der Ringe denn an
Menschen erinnern. Die Story ist entsprechend, kämpfen doch aufrechte
Spartiaten für Freiheit gegen despotisch geführte Horden
aus dem Osten. Ungefähr dieselbe Portion Orientalismus findet sich in
Indiana Jones und der Tempel des Todes. Hier kämpft ein
weißer Mann begleitet von und behindert von einer ebenso
hysterischen wie nervtötenden Frau gegen einen finsteren Kult in
einem mythischen Land voller menschenbluttrinkender und affenhirnessender
Menschen, um letzten Endes mit Hilfe der britisch-imperialen Armee, den
wehrlosen Dörflern ihren magischen Stein und damit ihr Idyll
wiederzugeben.
Junge Freiheit ist der Name einer Zeitschrift zwderzugeben.
Junge Freiheit ist der Name einer Zeitschrift zwischen Rechtsextremismus und
Konservatismus und soll für heutigen deutschen Orientalismus von Rechts
stehen. Denn während einige Neonazis fleißig das Bündnis mit
Islamisten gegen Juden und Israel suchen, bietet gerade diese Zeitschrift, die
stets ein guter Gradmesser für deutsches Ressentiment ist, ein Forum
für das Schüren der Angst vor dem Islam. Wer dieses Ressentiment in
Reinkultur sehen will, braucht nur einen Blick in den Blog politicallyincorrect
zu werfen. Wer nach der Lektüre dreier Beiträge und Kommentare
letztere sind nach den Naturgesetzen des Internet stets noch widerwärtiger
als die Artikel dieses Blogs immer noch behauptet, es gebe in
Deutschland kein Ressentiment gegen den Islam, dem ist kaum noch zu helfen.
Junge Welt wiederum heißt eine Zeitschrift am anderen Ende des
politischen Spektrums und soll hier für einen spezifisch
links-antiimperialistischen Orientalismus stehen. Dieser besteht weniger darin,
im Orient eine Gefahr für den Westen zu sehen, als darin, ihn als eine
andere Welt zu essentialisieren, in der westliche Werte von
Freiheit und Gleichheit nicht zählen. Als paradigmatisch für diesen
Orientalismus kann ein Text des Gesprächskreises Frieden und
Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung über den Iran und den
Atomstreit gelesen werden (Gesprächskreis Frieden und
Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2006). Dieser besteht
größtenteils aus Überlegungen zu machtpolitischen Interessen
einzelner Akteure, die zu weiten Teilen richtig, an anderen Stellen
problematisch und im Kerne naiv sind. Doch der eigentlich interessante Teil
kommt, wenn Werner Ruf und seine Mitautoren auf die Situation im Iran selbst
eingehen. Hierfür stützen sie sich keinesfalls auf Informationen
über das Land selbst, sondern auf eine Studie des Deutschen
Orient-Instituts in Hamburg von 2006, die behauptet, dass es bis 2010
im
gesamten Mittleren Osten zu keiner großen innenpolitischen Dynamik
kommen wird. Allein diese Generalisierung ist schon ungeheuerlich, wenn man
bedenkt, dass es sich hier um eine Vielzahl von Ländern vom Atlantik bis
Zentralasien handelt, zu denen prowestliche und islamistische Diktaturen ebenso
zählen wie die von Koalitionstruppen besetzten Staaten Irak und
Afghanistan. Doch nimmt der Gesprächskreis diese These ohne weiteres an
und schließt daraus, dass es gelte, sich auf eine lang anhaltende
Periode einzustellen, in der in islamischen Ländern politische Bewegungen
ihre Forderungen religiös auf der Grundlage des Islam, nicht
säkularistisch, artikulieren. (ebd.) In anderen Worten:
säkulare Bewegungen in islamischen Ländern sind für die Autoren
nicht denkbar. Dass es diese auch und gerade im Iran eben gibt,
wird dementsprechend mit keiner Silbe erwähnt. Das orientalistische Bild
des Orients als grundsätzlich Anderes blockiert die Wahrnehmung der
Realität im Iran. Während den Autoren Solidarität mit wild
streikenden und gewalttätig unterdrückten ArbeiterInnen in
Lateinamerika wohl selbstverständlich wäre, werden diese im Iran
schlicht ignoriert, denn dies ist der Orient und dort gelten andere
Maßstäbe. Zwar distanziert sich der Gesprächskreis in den
letzten Zeilen doch noch von einzelne(n) Aspekten des islamischen Straf-
und Familienrechtes, wie Amputationen und Steinigen, aber was ist diese
Schlussbemerkung für die Opfer wert, wenn an zentraler Stelle folgender
Satz zu lesen ist? Zum iranischen Entwicklungsweg sollte
grundsätzlich eine Haltung bezogen werden, die als selbstverständlich
anerkennt, dass Iran seinen selbstbestimmten, am Islam, der sozialen Spezifik
und Werten seiner Gesellschaft orientierten Entwicklungsweg geht.
(ebd.)
Selbstverständlich sollte stattdessen sein, dass für islamische
Länder dasselbe gilt, wie für den Rest der Welt: dass die
Solidarität den nach Freiheit strebenden Unterdrückten und
fortschrittlichen Kräften gilt. Das wäre Humanismus.
. 1997: Meinung Wahn Gesellschaft. In: ders.: Kulturkritik
und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, Gesammelte Schriften 10.2,
Frankfurt a.M., S. 573-594.
Alexander, Edward 1989: Professor of Terror. In Commentary, August 1989.
Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der
Rosa-Luxemburg-Stiftung 2006: Anti-iranische Offensive: Mehr als ein
Atomstreit. www.rosalux.de/index.php?id=13693 (letzter Aufruf am
12.09.2008).
Said, Edward 2003: Orientalism. 25th Anniversary Edidtion With a
New Preface by the Author, New York, NY.
Varisco, Daniel Martin 2007: Reading Orientalism, Seattle, WA and London.
Warraq, Ibn 2007: Defending the West, Amherst, NY.
Weiner, Justus Reid 1999: My Beautiful Old House and Other
Fabrications by Edward Said, In: Commentary, September 1999.
Fußnoten
(1) Als Mittlerer Osten bezeichne ich das, was im Englischen Middle East oder Greater Middle
East heißt. Hierzu werden die arabischen Länder Nordafrikas und der
arabischen Halbinsel, sowie der Iran und häufig noch die Türkei und
die islamischen Länder Zentralasiens gezählt. Zwar war im Deutschen
historisch der Begriff Naher Osten der gebräuchlichere, doch ist dieser zum einen deutlich enger und
hat sich zum anderen als Mittlerer Osten in den letzten Jahren so weit durchgesetzt, dass die wörtliche
Übersetzung des englischen Begriffes als der pragmatischste Weg
erscheint.
(2) Bei der Kritik von Saids Methode werde ich mich entgegen meiner
ursprünglichen Absicht nicht auf eine bestimmte Theorie beziehen. Beim
Schreiben fiel mir auf, dass die hier geäußerten Bedenken gegen
Saids Methode so grundlegend sind, dass es fast egal ist, ob man sie mit Marx
oder Habermas, Popper oder Adorno oder aber aus relativ naivem Positivismus
formuliert.
(3) Varisco kritisiert Saids Gewohnheit, breite Thesen zu formulieren und in diese
ein almost einzubauen, um sie so gegen Kritik zu immunisieren und
Widersprüchlichkeiten im eigenen Buch zu vertuschen (vgl. Varisco 2007, S.
99ff.).
(4) Varisco schreibt: (H)e cites stereotypes that at the time of
his writing would have been similarly rejected by the vast majority of those he
lumps together as Orientalists (2007, S. 51; vgl. ebd., S. 98f). Orientalismus selbst sei 1978 schon keine anerkannte Fachbezeichnung mehr gewesen. The Goliath Orientalism that Said felled with slinging and stinging
criticism was at the time of his writing a rather doddering gladiator, and the
Gotham of the historically instituted guild was already in ruins (ebd., S. 33)
(5) In einer Hinsicht bezieht Said jedoch Stellung gegen Foucault. Während
dieser die Bedeutung einzelner AutorInnen für den Diskurs in der Regel so
kleinredet, dass man sich bisweilen wundert, warum er überhaupt selbst
schreibt, betont Said stets, der Einzelne habe eine Chance, sich ein wenig vom
Diskurs freizuschwimmen oder dessen weiteren Verlauf zu beeinflussen (vgl. Said
2003, S. 23).Dennoch erscheint der orientalistische Diskurs gegenüber
einzelnen AbweichlerInnen in
Orientalism so übermächtig, dass dieses Aufbegehren gegen Foucault keine
größeren Konsequenzen zeitigt.
(6) Bemerkenswert auch, dass Said den Widerspruch nicht ernstlich diskutiert, der
darin steckt, sich zugleich einen explizit antihumanistischen Autor und
Humanismus zur Grundlage des eigenen Denkens zu wählen.
(7) Wohlgemerkt nicht etwa anhand ihres regressiven und
antiindividualistischen Gemeinschaftsdenkens, sondern einzig aufgrund ihrer
chauvinistischem Auftreten gegenüber Anderen.
(8) Wobei das zum Teil ein Widerspruch gegen Said ist.
(9) Eine Darstellung dieser anderen Seite des westlichen Diskurses über den
Orient legte Ibn Warraq mit
Defending the West.
(10) Auch Tolkiens Roman und dessen Filmadaption selbst stecken voller
orientalistischer Klischees.
(aus: CEE IEH #159)